DER UNSICHTBARE KOFFER

06.02.2021

Die erste Doppelseite, die nie erschien

Bekanntlich werden die ersten Seiten einer Geschichte oft zuletzt geschrieben. Als Alena und ich mit dem Kinderbuch fast fertig waren, sollte eine Doppelseite als Einleitung dienen. Würde diese Seite den roten Faden klarer machen? Der unsichtbare Koffer, den ich Leben lang mit mir trug, musste noch dargestellt werden.
Die Geschichte meiner Familie ist ein Teil des geschichtlichen Abschnitts der Vietnamesen im Ausland. Es gibt davon viele erzählte Geschichten – aber leider auch nicht erzählte. Die Kinder dieser Generation sind hin- und hergerissen. Die zerreißen Frage, wohin man gehört, wer man ist, prägt die Pubertät und die Zeit danach enorm.

Ich war acht. 1990 packten meine Eltern den Koffer und buchten nur den Hinflug in eine andere Welt, in eine fremde Kultur. Ich verabschiedete mich bei meinen Freuden und war stolz, von den Wenigen zu sein, Deutschland sehen zu dürfen.

Ich dachte sofort an Schnee. Ist der Schnee wirklich so wie die Kruste vom Eisfach des Kühlschrankes? Nur viel üppiger? So üppig, dass man sich reinlegen kann? Einmal in den Schnee springen. Dafür würde sich die Reise schon lohnen!

Warum wir weggingen – das wusste ich nicht. Meine Eltern sprachen nicht viel mit mir über Dinge der Erwachsenen. Gute Kinder sollten nicht so viele Fragen stellen. Ich hatte auch keine Frage gestellt.

Als die Doppelseite mit dem Koffer fertig war, entschied ich mich schnell, sie wieder rauszunehmen. Sie nahm der Geschichte des Kinderbuches die Leichtigkeit, das Fantastische … Nichtsdestotrotz war es ein guter Anlass, im Jahr 2020 mir selbst einen idealisierten, nostalgischen Koffer zu schenken. Ich bin sehr glücklich mit ihm!

Und das ist der Text dazu, der natürlich auch nicht gedruckt wurde:

„Für ein besseres Leben!“, sagten mir meine Eltern und fingen an unseren Umzug vorzubereiten. „Falls das neue Zuhause nicht gefällt, ziehen wir eben in ein paar Jahren wieder zurück.“

Mit diesem Vorschlag war ich einverstanden und freute mich auf die neue Welt.

Ein besseres Leben bedeutete für meine Eltern arbeiten und sich neuen Herausforderungen zu stellen.

Bis mein Bruder kam, war ich ganz alleine. Freunde hatte ich noch nicht, aber viel Zeit meine neue Umgebung zu entdecken …

TB,

06.02.2021

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